Michael Sallmann: „Kalte Zeit

 

An einen künftigen Funktionär

Erst mal hochkommen
willst du.
Von oben her
mehr Einfluss nehmen
auf den Lauf der Dinge

Später.
Mit dem nötigen Überblick
könntest du lindern
diese oder jene Krankheit
der rosa Krebsgeschwüre
gleich einem Arzt.
Später.

Später
erscheinst du uns wieder
auf der Titelseite des Bezirksblattes,
doch gelangweilt
legen wir beiseite

einen Gesundbeter.

 

1975, Leipzig

 

 

Bewährter Apparat

Bei uns zu Haus
arbeitet noch immer
ein leistungsfähiger
Staubsauger
älterer Bauart.
Sämtliche neueren Modelle
sind konstruiert
nach seinem Vorbild.

Unermüdlich verschlingt die Maschine
alles was ihr
im Weg ist.
Man erkennt noch
das Firmenschild
„VEB J.W. Stalin“.

 

1975, Leipzig

 

 

Das Buchenwaldlied

In Buchenwald,
da machen Busse halt
vor Adolf Hitlers Stacheldraht.
Kulturplanschlau
macht eine Fahrt ins Blau
das Hoch- und Tiefbaukombinat.

Frau, warte hier,
ruft unser Brigadier
und rennt noch schnell zum Bockwurststand.
Anstatt mit Trauerflor
geht er durchs Lagertor
mit der Bockwurst in der Hand.

Und im Genickschussstall
sieht man auf jeden Fall
Herrn Ingenieur ganz nah des Seils.
Sein Sohn, der auch studiert,
ist technisch int’ressiert.
Papa erklärt ihm die Details.

Aus dem SS-Schlafhaus
schau’n FDJ’ler ‘raus,
sie winken der Gesellschaft zu.
Sie machen Ferien dort
mit Liebe, Spiel und Sport
und finden so endlich mal Ruh.

Man platzt vor Pietät
was sich als Kranz entlädt,
niedergelegt am Glockenturm.
Dann Schluss mit diesem Stuss,
’rein in den nächsten Bus
und auf die Ausflugskneipe Sturm.


1973, Leipzig

 

 

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LPG-Skandal

Es schrie das Vieh, schrill rief die Frau.
Das Hoftor stand weit offen.
Der Straße zu, auf einer Sau,
der Bauer ritt. Besoffen.

Zur Mutter sprach das kluge Kind:
Der Vati ist heut lustig!
Der Reiter lallte in den Wind:
Ihr könnt mir…! Auf Euch hust ich.

Nachsatz:

Der Vorstand distanzierte sich
sehr scharf vom Schweine-Ritt.
Sitzt man besoffen auf der Sau,
reitet der Gegner mit.

 

1973, Leipzig

 

 

Austreibungslied

Ach als ich saß im Stasiknast
Berlin-Hohenschönhausen,
da brachten die Genossen dort
mir bei das kalte Grausen.

   Sie sprachen: Ihnen werden hier
   An Knast zehn Jahre blühn.
   Wir ließen Sie auch sofort frei.
   Doch nur nach Westberlin.

Nun sträuben Sie nicht länger sich!
Sie kommen frei, schon morgen.
Bleib
n Sie im Knast, gehen Sie kaputt,
wir würden dafür sorgen.

   So sprachen sie, und lächelten,
   wobei sie schon mit dem
   Ausreiseantrag fächelten,
   denn so ist
s ja bequem.

So trieb man mich zum Land hinaus,
sie fuhr’n mich durch die Mauer.
Mein Herz, es jubelte befreit,
im Magen wurd’s mir sauer.

   Nun häng ich hier in Westberlin
   Und hör dies Argument:
   Der Meckrer soll doch rübergehn.
   Ach, wenn ich es nur könnt!

Das sag ich euch: Sobald ich kann,
kehr ich zurück nach Osten.
Und ich geh niemals davon ab,
sollt es auch Jahre kosten.

   Doch bis es soweit ist will ich
   Auch hier das Maul aufreißen,
   noch immer macht‘s von unten Lust,
   nach oben hoch zu beißen.


1977, Westberlin